Forschungsausrichtung der Abteilung
Die Abteilung Allgemeine und Historische Erziehungswissenschaft behandelt Fragen zu Erziehung, Unterricht, Bildung und Sozialisation in den Entstehungs- und Transformationsprozessen moderner Gesellschaften unter nationaler wie internationaler Akzentuierung. Im Mittelpunkt stehen transdisziplinär orientierte Problemstellungen, deren Bearbeitung einen Beitrag zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft und zur pädagogischen Theoriebildung bieten. Die Themen sind entsprechend vielfältig und ihre Bearbeitung erfolgt unter historisch-systematischen Schwerpunktsetzungen. Neben den »klassischen« Themen der Allgemeinen und Historischen Erziehungswissenschaft (z.B. anthropologische und ethische Fragen) sind in der jüngeren Vergangenheit »neue« Themen hinzugekommen. Die Abteilung behandelt sie unter verschiedenen Schwerpunkten, z.B. Fragen der gerechten Gesellschaft, des Aufwachsens unter Bedingungen der Komplexität oder der Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Das Methodenspektrum umfasst neben anderem Theorienvergleiche, Argumentationsanalysen, Diskursforschung, historische Rekonstruktionen und empirische Erhebungen. Durchgängig sind eine problemorientierte Vorgehensweise sowie die Orientierung an der Differenz zwischen Pädagogik und Erziehungswissenschaft.
Die zentralen Forschungsfelder umfassen:
1. Wissenschaftstheorie & Komplexitätsforschung der Erziehungswissenschaft
Wissenschaftstheorie der Erziehungswissenschaft: Seitdem wissenschaftstheoretische und methodologische Ausbildungsanteile aus den Curricula der erziehungswissenschaftlichen Studiengänge an vielen Hochschulstandorten fast gänzlich verschwunden sind, sind Fragen nach dem Verständnis von Wissenschaft, nach der Kenntnis der Fach- und Disziplingenese sowie nach einschlägigem Wissen in allen relevanten Urteilsdimensionen vermehrt in den Focus der Aufmerksamkeit gerückt. Im Mittelpunkt stehen z.B. Probleme des erziehungswissenschaftlichen Theorienstatus, pädagogischer Theoriebildung, einer Pädagogik als Wissenschaft, wissenschaftlicher Ausbildung, wissenschaftlichen Arbeitens und Studierfähigkeit sowie der Hochschullehre in ihrer historischen Genese.
Komplexitätsforschung der Erziehungswissenschaft: Die Abteilung Allgemeine und Historische Erziehungswissenschaft vertritt ein Forschungsprogramm, das mit der Unterscheidung zwischen der Komplexität von Situationen, der Komplexität von Sachverhalten und der Komplexität von Methoden operiert, um das Aufwachsen unter den Bedingungen komplexer Gesellschaften beschreibbar und erforschbar zu machen. Die Annahme, dass die Entscheidungs-, Planungs- und Durchführungsverfahren, die Handlungen, mit denen Ziele realisiert und Zwecke verfolgt werden sollen, und auch die Menschen komplex sind, wird in modernen Gesellschaften weithin geteilt und unter vielfältigen Gesichtspunkten erforscht. Es fehlt aber bislang eine allgemeine erziehungswissenschaftliche Theorie der Komplexität, die Begriffe, Annahmen und Methoden aus einer fachwissenschaftlichen Perspektive erklärbar macht, auf die Beschreibungen der Komplexität und deren Erforschung zurückgreifen.
2. Pädagogische Anthropologie & Bildsamkeitsforschung
Pädagogische Anthropologie: Alle Beschreibungen von Erziehung greifen auf Menschenbildannahmen und auf mehr oder weniger explizite und systematisierte Theorien des Menschen zurück. Aufgabe einer erziehungswissenschaftlichen Theorie der Erziehung ist es, solche Annahmen und Theorien in den Beschreibungen von Erziehung zu thematisieren und in Relation zur einschlägigen Forschung z.B. in den Nachbardisziplinen Psychologie, Soziologie und Neurobiologie, zu problematisieren.
Bildsamkeitsforschung: Bildsamkeit gilt seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als »Grundbegriff« der Pädagogik. Johann Friedrich Herbart hatte seiner Bestimmung dieses »Grundbegriffs« eine problemorientierte Fassung gegeben, die auch heute noch von hoher Aktualität ist. Die an der Abteilung betriebene Bildsamkeitsforschung arbeitet im Kontext der internationalen Herbart-Forschung daran, dieses Potential für erziehungswissenschaftliche Forschung sichtbar zu machen. Generell behandeln die Forschungen »Kernfragen« des Faches, die das schwierige Verhältnis zwischen drei Problemkomplexen ausloten: dem Problem, ob Erziehung im jeweiligen Fall notwendig ist, dem Problem, auf welche Fähigkeiten Erziehung aufbauen kann, und dem Problem, in welche Erziehungsgeschichte die einzelnen Massnahmen eingreifen. In Verbindung mit der Komplexitätsforschung wird z.B. das Problem angemessener Prüfungsformate gestellt und gefragt, wie eine Differenzierung der Prüfungen pädagogisch begründet werden kann.
3. Pädagogische Ethik & Werteforschung
Pädagogische Ethik: Ein Leben unter den Bedingungen normativer Ordnungen wird in modernen Gesellschaften zunehmend als problematisch wahrgenommen und in seinen vielfältigen Bezügen diskutiert. Fraglich geworden sind nicht nur einzelne Normen, sondern insbesondere die Funktion der Normorientierung und die Verbindlichkeit normativer Regelungen in sozialen Ordnungen. Moderne Gesellschaften scheinen generell auf der Suche nach Orientierung zu sein. In dieser Suche spiegelt sich das pädagogische Grundproblem, zu welcher Gesellschaft die Erwachsenen mit ihren Erwartungen an die Nachwachsenden beitragen wollen, welche Rechte sie ihnen zuerkennen, welche Pflichten sie ihnen aufbürden und welche Leistungen sie selbst für ein gelingendes Aufwachsen erbringen wollen. Die Abteilung untersucht diesen Zusammenhang grundlegend unter der Fragestellung, wie sich die Suche nach Orientierung jeweils gestaltet.
Werteforschung: Allen Überlegungen, Entscheidungen, Handlungen und Urteilen liegen bewusste und unbewusste Vorzugsgesichtspunkte zugrunde, die nicht nur die konkrete Wahl selbst, sondern auch die Bereitschaften und Dispositionen, Einstellungen und Haltungen strukturieren. Solche Vorzugsgesichtspunkte sind Werte. Themen der Werteforschung, die in der Abteilung behandelt werden, umfassen Fragen der Wertbindung, Werthaltung und Wertentstehung wie -veränderung, Fragen der Funktion von Werteorientierung sowie Fragen der Werteerziehung im Unterschied zu einer Erziehung zur Werteorientierung.
Forschungsschwerpunkte der Mitarbeiter
Dr. Kira Ammann
Kinderrechte und Kindheitsforschung: Der Forschungsschwerpunkt liegt auf dem Kind als Subjekt im Verhältnis von Erziehung und Recht und der Perspektive des Kindes im Sinne einer erziehungswissenschaftlichen Kindheitsforschung. Ein Thema bilden die in den vergangenen Jahren stärker in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückten Fragen der Rechte von Kindern. Kinderrechte garantieren den Anspruch, dass Kinder sich zu allem ins Verhältnis setzen dürfen – zu den Anforderungen des Lebens, den Aufgaben, welche die Gesellschaft an sie richtet, den Ansprüchen der Erwachsenen – und dass sie diesem Ins-Verhältnis-Setzen mit ihrer Stimme Ausdruck verleihen dürfen. Dass dieser Anspruch nicht überall anerkannt und umgesetzt wird, ist ein zentrales Thema der Kindheitsforschung, wie sie von der Allgemeinen und Historischen Erziehungswissenschaft in Bern verstanden wird.